Endstation Kotti

Erschienen im Tagesspiegel am 14. September 2022 – online

Jeder soll sich hineintrauen: Der Kreuzberger Projektraum Stations gehört zu den Preisträgern des diesjährigen Project Space Awards. Ein Besuch im Hochhausdschungel.

Wie ein mächtiges Reptil liegt das Neue Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor, erhebt sich über die Adalbertstraße, legt sich halbrund in die Kurve. Unübersehbar dominant, eine Betonfestung. Auf zwölf Etagen bietet das Gebäude knapp 300 Wohnungen, dazu kommen Gewerbeflächen. Eng ist es und unübersichtlich. Wer hier etwas oder jemanden sucht, kennt besser mehr als nur die Hausnummer.

So wie im Fall des Projektraums Stations. Oben im ersten Stock, links neben dem Café Kotti, nicht weit weg von dem Ladenlokal, in das die neue Polizeiwache einziehen soll, befindet er sich. Betrieben wird der Raum von Melissa Canbaz und Mihaela Chiriac. Im Rahmen der Berlin Art Week wurde er mit dem Project Space Award ausgezeichnet. Stations, den Namen wählten Canbaz und Chiriac, weil sie anfangs einen nomadischen Raum planten. Orte wollten sie bespielen, die sonst nichts mit Kunst zu tun haben. Das Ganze gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht.

„Genau zweimal hat das am Anfang funktioniert“, erzählt Canbaz. Einige Zeit verging, bis sie dann im Neuen Kreuzberger Zentrum eine permanente Adresse fanden. Endstation Kotti. In ihrer ersten Ausstellung dort im September 2019 zeigten sie Arbeiten der New Yorker Künstler Matt Hoyt und Tom Thayer.

Gute Nachbarschaft ist den Projektraumbetreiberinnen wichtig. Stations sollte keiner jener Kunstorte werden, in die man sich nicht hineintraut, wenn man nicht Teil der Szene ist. Kennengelernt haben sich Canbaz und Chiriac bei der Arbeit in einer Galerie. Lange her ist das schon. Canbaz arbeitet mittlerweile in der Buchhandlung ProQm, Chiriac als Studiomanagerin der Künstlerin Thea Djordjadze, dem Galeriebusiness haben sie den Rücken gekehrt. Stations soll sich davon abgrenzen: „Die Art und Weise, wie man in Galerien Ausstellungen macht, ist ein ganz anderer Kontext“, erklärt Chriac. „Wir wollten etwas schaffen, das zugänglicher ist.“

Gerade wenn es thematische Anknüpfungspunkte zum Leben der Menschen in Kreuzberg gibt, versuchen sie Barrieren abzubauen, in sprachlicher Hinsicht zum Beispiel. Flyer oder Broschüren werden bei Stations schon mal in sechs Sprachen übersetzt. Offener will der Projektraum auch konzeptuell sein, indem sie künstlerische Positionen auswählen, die in Berlin noch wenig bekannt sind.

Möglich ist das nicht zuletzt, weil es bei Stations nicht ums Verkaufen geht. Das Projektraumbusiness ist eben kein Business, ist und bleibt daher eine prekäre Angelegenheit. Das Preisgeld vom Project Space Award ist die erste Förderung, die Stations erhalten, bislang finanzierten sie alles selbst.

Anfangs war noch die Künstlerin Sofia Duchovny mit an Bord. Nach den ersten beiden Projekten stieg sie aus, eng verbandelt mit Stations ist sie aber noch immer. Überhaupt seien da vielen Menschen in ihrem Umfeld, die Stations auf die eine oder andere Art unterstützten. Nachhaltig nennen sie es, sprechen von kollektiver Anstrengung und Kollaboration. „Ohne den Rückhalt unseres Umfelds würde das alles gar nicht funktionieren“, sagt Canbaz. Als Kuratorinnen wollen sich die zwei gar nicht erst bezeichnen. Interessanter als solche begrifflichen Spitzfindigkeiten ist ohnehin, was Stations überhaupt veranstalten.

Klassische Ausstellungen sind das zum Teil, nicht selten aber geht es darüber hinaus. Musik spielt oft eine Rolle, wie kürzlich etwa, als an einem Sonntagnachmittag im August Chorgesang das Treiben am Kotti übertönte. Stations hatte Emrah Gökmen eingeladen, der mit seinem Chor seit 2019 anatolische Volkslieder und Gedichte auf eine andere – queere, antifaschistische – Bedeutungsebene hebt. Das Konzert fand im Rahmen von „Balkone“ statt, einer von Stations organisierten Veranstaltungsreihe.

Zur Berlin Art Week kooperierten Canbaz und Chiriac mit der New Yorker A.I.R. Gallery, einer 1972 gegründeten Kooperative von Künstlerinnen für Künstlerinnen. Canbaz und Chiriac recherchierten im Archiv der Non-Profit-Galerie und sprachen mit beteiligten Künstlerinnen, versuchten herauszuarbeiten, wie das Kollektiv über die Jahre hinweg zusammenarbeitete sowie Kontroversen überstand – und sie stellten Vergleiche zu Berliner Initiativen auf.

Eine Kollaboration mit A.I.R., pünktlich zu deren 50. Jahrestag, ist die Ausstellung also, aber auch mit zwei Berliner Künstlerinnen, Christl Mudrak und Alexandra Müller, die unter dem Titel „Musee de la Fraise“ die in der Stadt verteilten Erdbeerverkaufshäuschen von Künstler*innen und Kollektiven in Kunstorte verwandeln lässt (www.museedelafraise.de, bis 25. September). Eines davon, das sich in der Annenstraße befindet, beherbergt die Fortsetzung der Schau. Gewissermaßen kommen Canbaz und Chiriac damit wieder bei ihrem anfänglichen Konzept an, bei den für die Kunst untypischen Orten. Ihren Stammplatz in Kreuzberg haben sie aber nicht vor zu verlassen.

— Stations, Adalbertstr. 96, Balkonlevel, links vom Café Kotti.

Beate SchederTagesspiegel, Kunst