Wo bleibt die Kreativität, wenn der Raum fehlt?

Erschienen in die WELT am 3. August 2019

Künstlerateliers gelten seit der Renaissance als magische Orte. In Städten wie Berlin sind sie mittlerweile vom Aussterben bedroht

In seinen Notizen über Alberto Giacometti beschrieb Jean Genet dessen Werkstätte so: Aus wurmstichigem Holz und grauem Staub sei sie; fleckig und brackig, schwankend und nahe daran einzustürzen; alles neige dazu sich aufzulösen, alles fließe. „Aber alles ist wie in einer absoluten Realität gefasst. Wenn ich das Atelier verlassen habe, wenn ich auf der Straße stehe, dann ist alles nicht mehr wahr, was mich umgibt.“

Dass Künstlerateliers bemerkenswerte, geheimnisumwitterte Orte sind, trifft auf das von Giacometti in besonderem Maße zu. Bei keinem anderen Künstler ist der Mythos, der ihn umgibt, so stark an einen Ort, sein Atelier nämlich, gekoppelt: eine 18,5 Quadratmeter kleinen Rumpelkammer in einem unwirtlichen Barackenkomplex mit rohem Fußboden und nackten Wänden, vollgestopft mit halb fertigen Kunstwerken, Pinseln, Spachteln, Farbtuben, Lackdosen und ein paar abgenutzten Möbeln, die nicht gerade den bequemsten Eindruck machen. Wie auch sonst nichts in dem für einen Bildhauer und Maler erstaunlich kargen Loch. Giacometti blieb dort, auch als er sich etwas Repräsentativeres hätte leisten können. Das schäbig Bohemienhafte war es gerade, das seine Zeitgenossen – zahlreiche Fotografien und Filme zeugen davon – und ihn selbst faszinierte und inspirierte.

Heute prekär lebende Kunstschaffende mögen angesichts dieser romantischen Verklärung miserabler Räumlichkeiten nur die Augen verdrehen. In Metropolen mit großer Künstlerdichte wie New York, Paris oder London und seit einiger Zeit auch in Berlin sind die Aussichten, bezahlbare Ateliers zu ergattern, eher tiefschwarz als rosig. Die Mär vom paradiesischen Produktionsstandort an der Spree hat tiefe Risse bekommen. Der Ateliernotstand treibt alle, die es verpasst haben, vor Jahren schon Eigentum zu erwerben, oder sich das sowieso noch nie leisten konnten – mittlerweile auch nicht mehr zur Miete –, in die Peripherie oder ganz aus der Stadt.

Das Atelier Giacomettis kann man als Rekonstruktion – samt abgekratzter Wandmalerei und gut gefülltem Aschenbecher – in der Pariser Fondation Giacometti besichtigen. Künstlerateliers beflügeln die Fantasie augenscheinlich selbst im konservierten Zustand. Sie sind wie Keimzellen des visionären Schöpfertums und künstlerischen Selbstverständnisses dahinter – nachzulesen bereits in Giorgio Vasaris „Vite“ über die Großen der italienischen Renaissance. Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, Pablo Picasso oder Henri Matisse machten das Atelier endgültig zum Ort kreativer Selbstinszenierung. Und Piet Mondrian, Kurt Schwitters und Constantin Brancusi trieben es auf die Spitze, indem sie ihre Arbeitsräume zu Gesamtkunstwerken überstilisierten.

Gesellschaftspolitische Diskurse fanden im Atelier ihren Widerhall. Das Bild von der erotisch aufgeladenen Bühne männlicher Schaffenskraft stellten in den 60er- und 70er-Jahren Künstlerinnen wie Carolee Schneemann radikal auf den Kopf. 1963 präsentierte sie ihre Studioperformance „Eye Body“ oder vielmehr sich selbst, nackt zwischen ihrer kinetischen Malerei, mit allerlei Materialien und einer Schlange posierend, als Subjekt und Objekt zugleich. Post-Studio-Künstler wie Daniel Buren oder Robert Smithson erklärten wiederum das elfenbeinturmgleiche Atelier als obsolet und forderten stattdessen Kunst dort zu schaffen, wo sie sichtbar sei, in der Öffentlichkeit.

Und heute? Erzählen Künstlermythen neue Geschichten. Romantisch klingt keine von ihnen. Auf der einen Seite des Spektrums gibt es auf Effizienz und Arbeitsteilung ausgerichtete künstlerische Großbetriebe. Olafur Eliasson etwa beschäftigt in seinem Studio laut eigenen Angaben rund 90 Menschen, als Handwerker, Techniker, Architekten, Archivare, Kunsthistoriker, Designer, Filmemacher, Köche. Auch Katharina Grosse käme auf den 18,5 Quadratmetern von Giacometti nicht zurecht. Um ihrer überdimensionierten Malerei den nötigen Raum zu geben, hat sie sich ein Atelierhaus bauen lassen, einen Betonkubus hinter dem Berliner Hauptbahnhof.

Andere Ateliers gleichen Forschungseinrichtungen. Stefanie Bürkle, deren eigenes sich im spektakulären Umlauftank der ehemaligen Versuchsanstalt für Wasser und Schiffsbau in Berlin befindet, stellt beiderlei Hexenküchen einander gegenüber, künstlerische wie wissenschaftliche. In ihrem Buch „Atelier + Labor. Werkstätten des Wissens“ (Hatje Cantz Verlag) zeigt sie, wie schwer sie mitunter auseinanderzuhalten sind. Das von Tomás Saraceno etwa könnte man gleich zu beidem zählen, unterhält der Installationskünstler und Spinnenfan in seinen Berliner Räumlichkeiten doch auch ein arachnologisches Laboratorium.

Lange rühmte sich Berlin seiner günstigen Räume zum Wohnen und Arbeiten, zog so Künstler aus aller Welt an. Alles vorbei? Kaum einer kennt die Misere so gut wie Martin Schwegmann, Atelierbeauftragter für Berlin. Im Gespräch mit WELT spricht er von einem Notstand nie gekannten Umfangs: „Schätzungsweise leben 8000 professionell arbeitende Künstlerinnen und Künstler in der Stadt. Die Hälfte davon ist mehr oder weniger auf der Suche.“ Schwegmann veröffentlichte kürzlich das „Weißbuch der Atelierförderung“ mit Handlungsempfehlungen an Berlin. Durchschnittlich 350 bezahlbare Ateliers gingen seit zehn Jahren jährlich verloren, heißt es darin. Gefordert werden als Gegenmaßnahmen etwa ein Sofortprogramm für 700 zusätzliche Ateliers in den nächsten zwei Jahren, eine Umgestaltung des Förderprogramms, um Standorte zu erhalten und leer stehende landeseigene Gebäude einfacher in Atelierhäuser verwandeln zu können, sowie eine Stadtentwicklungspolitik des „cultural planning“.

Die aktuelle Immobilienkrise treffe alle, Künstler aber besonders hart. Aufgrund des großen Bedarfs an Wohnungen werde immer mehr Gewerberaum in Wohnraum umgewandelt, und auf dem verbliebenen Gewerbemarkt unterlägen sie vielfach anderen Interessenten, etwa aus der Start-up-Branche, bei denen ganz andere Mieten realisierbar seien, erklärt Schwegmann.

Die Gentrifizierung frisst ihre Kinder, aber nicht nur sie, denn: Was bleibt, wenn die Künstlerinnen und Künstler fort sind oder sich nur noch am Stadtrand aufhalten, in Mariendorf oder Adlershof? Wenn irgendwann im Zentrum die kritische Masse Kreativer fehlt, wenn dort, wo jetzt noch alle zusammenkommen, nichts mehr passiert? Wenn Berlin keine Stadt mehr ist, in der man neue Strömungen früher als anderswo wahrnimmt? Dann, glaubt Schwegmann, sei Berlin womöglich auch für die großen Namen nicht mehr länger interessant.

Nicht nur die Stadt kann jedoch dazu beitragen, das zu verhindern. Galerien und Museen, die auf die Produktivität ihrer Künstler schließlich angewiesen sind, könnten als Vermittler auftreten, gegenüber öffentlichen wie auch privaten Entscheidern. Sammler könnten dem Beispiel des Ehepaars Haubrok folgen, dem in Berlin auf dem Gelände der „Fahrbereitschaft“ zwar der Ausstellungsbetrieb untersagt wurde, das aber dort weiterhin Ateliers zur Niedrigmiete anbietet. Und womöglich gibt es unter Kunstkäufern sogar Investoren, die, wie es die Berliner Unternehmensgruppe Artprojekt kürzlich vermeldete, dazu übergehen, einen gewissen Anteil ihrer Immobilien für Künstler reservieren. Artprojekt will in zukünftigen Stadtprojekten eine feste Quote von drei Prozent für bezahlbare Ateliers schaffen. Keineswegs nur aus altruistischen Gründen: Für Künstler kann der Verlust der Arbeitsräume das Ende der Karriere bedeuten. Auch am Mythos von Berlin als Kunststadt könnte das kratzen.

Beate SchederWelt, Kunst