Kader Attia: Die Narben der Geschichte zeigen

Erschienen in SPEX im August 2017

Kader Attias Berliner Atelier gleicht dem Archiv eines Kulturhistorikers. Der algerisch-französische Künstler versteht sich als Sammler und Neuarrangeur. Sein Konzept der Reparatur macht Brüche und Narben in Objekten und Kulturen sichtbar und erzählt damit eine Geschichte der Macht. Attias Installationen – aktuell zu sehen auf der Biennale in Venedig und im Rahmen der Pluriversale in Köln – treffen Aussagen über die Möglichkeiten kultureller Wiederaneignung. Und machen ihn zu einem der bedeutendsten Künstler unserer Zeit.

Um eine eigene Identität zu entwickeln, davon war der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade überzeugt, müsse man seine Feinde aufessen, verdauen und wieder ausscheiden. Im übertragenen Sinn natürlich. De Andrade erhob den Kannibalismus zur Metapher für die Emanzipation postkolonialer Gesellschaften. In seinem 1928 veröffentlichten Anthropophagischen Manifest forderte er einen neuen Umgang mit brasilianischer Kultur, insbesondere der Literatur, sowie dem Fremden, also vor allem den europäischen Einflüssen der ehemaligen Eroberer. Es gelte, sich jene Hinterlassenschaften anzueignen, mit eigenen Traditionen zu vermengen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen.

 

Kader Attia erzählt von de Andrades Ideen der kulturellen Anthropophagie und davon, wie er sich seit Jahren selbst mit dem Thema der Wiederaneignung beschäftigt. Man könnte sich den Schauplatz für seine Ausführungen nicht besser ausdenken: Attia, 1970 in Frankreich geboren, in Algerien und in den Pariser Vororten aufgewachsen, sitzt in seinem Atelier in Berlin zwischen Bücherstapeln und deckenhohen Metallregalen, die vollgestopft sind mit noch mehr Büchern, Magazinen, Schriften, Papieren, Schnitzarbeiten aus diversen afrikanischen Ländern. Fast wirkt das Setting wie eine Installation, die visualisieren soll, was Attia zu einem der bedeutendsten Künstler unserer Zeit macht, nämlich dass er, der neben Kunst auch Philosophie studierte, über die Disziplingrenzen und üblichen Kanons mannigfaltige Referenzlinien zieht, um die komplexen Konfliktfelder unserer Zeit analytisch auseinanderzunehmen, dabei aber dennoch nicht in bloßer Theorie verharrt. Was Attia betreibt, fällt eher unter Grundlagenforschung am Objekt. Dabei kreiert er Bilder, die gleichsam ethisch wie poetisch sind, die ästhetisch und emotional berühren wie konzeptuell überzeugen.

 

Da gibt es zum Beispiel den Silberschmuck, nach traditioneller Art gefertigt von algerischen Berbern: Broschen, Ketten, Armbänder und -reifen, schweres Gehänge, wie es Bräute am Tag der Hochzeit tragen. Attia wird die Schmuckstücke ab Mitte September in der Kölner Akademie der Künste der Welt in der Gruppenausstellung Stealing From The West – Cultural Appropriation As Postcolonial Retaliation präsentieren, als einen Beleg für die These der Schau, die der Diskussion um kulturelle Aneignung um die Beobachtung erweitert, inwiefern unterprivilegierte Gruppen westliche Kultur in ihre eigene aufnehmen.

Die Geschichte des Schmucks ist mit Attias eigener verknüpft: Seine Großmutter hatte solches Geschmeide während des Algerienkrieges bei der Bevölkerung in den Bergen im Osten Algeriens gesammelt und in einer Höhle zusammengetragen, von wo aus das Silber mit Eseln über die Grenze nach Tunesien ins Hauptquartier der algerischen Befreiungskämpfer gebracht und dort eingeschmolzen wurde – um davon Kalaschnikows zu kaufen. Vom Originalschmuck ist kaum etwas übrig geblieben. Attila musste lange suchen, um noch einzelne Stücke aufzutreiben.

 

Die entscheidenden Hinweise für das, was Attia an diesem Schmuck besonders interessiert, verbergen sich auf dessen Rückseite: Köpfe, Buchstaben, Zahlen sind dort zu erkennen. Die Stücke sind zum Teil aus Kleingeld gefertigt, aus französischen Münzen, Insignien der kolonialen Vorherrschaft also, die jedoch ihrer eigentlichen Funktion beraubt wurden. „Auf symbolische Weise haben einige traditionelle Gesellschaften, die von fremden Mächten beherrscht wurden, deren Sinnbilder der Macht gegessen und in Artefakten wiederverwendet“, erklärt Attia und bedient sich dabei am Vokabular de Andrades. Dieser Prozess der Aneignung sei einerseits unbewusst, anderseits hochpolitisch: „Das ist eine kulturelle Absorption und Transformation eines Objekts, das die Macht des Westens symbolisiert und dabei gleichzeitig auf gewisse Weise verhöhnt.“ Noch ein anderer Aspekt ist für Attia entscheidend: „Kolonialismus war eine männliche, weiße Idee. Er weist alle Kriterien männlicher Vorherrschaft der damaligen Zeit auf“, sagt er. „Die Tatsache, dass ich diese frühen Formen des Widerstands in einem weiblich besetzten Feld fand, ergibt für mich absolut Sinn.“ 

 

Seit einigen Jahren schon ist die kulturelle Wiederaneignung, die Reappropriation, das Thema, das Attia umtreibt, noch mehr jedoch seine Idee von Reparatur. Genau genommen hängt beides für ihn zusammen, die Reappropriation ist für Attia eine Form von Reparatur – und Reparatur der menschlich instinktive Wunsch nach Heilung und Wiederherstellung, ein geradezu universales Phänomen, jedoch mit unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen. So würde man etwa in Afrika, wenn die Tür eines weißen Autos kaputtgeht, einfach eine vorhandene rote einsetzen, im Westen hingegen auf die Lieferung einer weißen warten. In Attias Worten: „In traditionellen Gesellschaften wird bei jeder Reparatur der Beschädigung Raum gelassen, die Bruchstelle bleibt sichtbar, während es im Westen beim Reparieren immer darum geht, den Schaden für immer zu beseitigen, ihn komplett verschwinden zu lassen.“ Oder auch darum – auf diesem Prinzip beruht der Kapitalismus –, das beschädigte Objekt durch ein neues komplett zu ersetzen.

 

Attia verschwindet kurz in einem Nebenraum seines Ateliers und kommt mit einem Teller aus chinesischem Porzellan zurück, ein Artefakt aus dem 18. Jahrhundert, wie man es für Teezeremonien benutzt. Von vorne erkennt man die Linien einer Bruchstelle, dreht man den Teller um, sieht man auf der Rückseite, wie mehrere Keramikstücke mit groben Drahtklammern aneinandergefügt wurden, als handle es sich um eine frische Wunde, die genäht werden musste. Attia findet solche Objekte auf Flohmärkten. „Jedes Mal, wenn ich in ein Land reise, erkundige ich mich, wo welche stattfinden,“ erzählt er. „Alte Dinge tragen für mich die Energie all der Menschen in sich, die sie einmal benutzt haben. Wir denken, dass wir sie anschauen, aber in Wirklichkeit schauen sie uns an, denn sie werden uns überdauern.“ Man könnte solche Beobachtungen als kulturelle Unterschiede im Umgang mit der Dingwelt abtun, für Attia geht die Sache jedoch tiefer, betrifft den Umgang mit Verletzung, Verletzlichkeit und Heilung an sich, die Aufarbeitung von Traumata und Versöhnung. Hier wie da bedeute ein Wiederherstellen, das die Verletzung verleugne, Verdrängung – sowohl der Schwächen des Objekts oder der Person als auch der Spuren der Zeit, der Spuren der Geschichte.

 

Die bislang vielleicht eindrücklichste Ausarbeitung dieses Gedankens gelang Attia im Jahr 2012 auf der Documenta 13 mit The Repair From Occident To Extra-Occidental Cultures. Damals stellte Attia unter anderem Fotografien grausam verstümmelter Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, mit schwulstigen Narben, abgetrennten Nasen und leeren Augenlöchern, Holzbüsten gegenüber, die nach deren Vorbildern von afrikanischen Kunsthandwerkern geschaffenen worden waren. Damit – so fasste es die Kunsthistorikerin Eva Scharrer im Katalog der Großausstellung zusammen – warf Attia „fundamentale Fragen nach den unterschiedlichen ethischen und ästhetischen Vorstellungen von Reparatur und nach der westlichen Illusion von Perfektion und posttraumatischer Heilung auf“. Tatsächlich gehörte The Repair From Occident To Extra-Occidental Cultures zu den Arbeiten der Documenta 13, die dem Publikum wie der Kunstkritik am nachhaltigsten im Gedächtnis blieben. Sie verhalf Kader Attias Name zu größerer Bekanntheit. Es folgten unter anderem 2013 eine Einzelausstellung in den Berliner Kunst-Werken, die Installation Continuum Of Repair: The Light Of Jacob’s Ladder in der Londoner Whitechapel Gallery und 2014 eine Einzelausstellung in der New Yorker Lehmann Maupin Gallery. Aktuell ist Attia auf der 57. Biennale von Venedig mit einer Arbeit über die Kraft der menschlichen Stimme und der Poesie vertreten.

 

In seiner jüngsten Einzelausstellung bei seiner Berliner Galerie Nagel Draxler hatte Attia eine verlassene Wohnung mit halb abgerissenen Tapeten direkt über der Galerie zu einer begehbaren Videobibliothek umfunktioniert. Reason’s Oxymorons (2015), ein umfassendes Projekt, das Attia erstmals auf der Lyon Biennale gezeigt hatte, versammelt Interviews mit Philosophen, Ethnologen, Historikern, Psychoanalytikern, Musikologen, Heilern und Patienten zu Möglichkeiten des Umgangs oder der Heilung psychopathologischer Erkrankungen. In einer Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main (MMK) baute Attia im Frühling 2016 unter anderem einen käfigartigen Metallkorridor nach, mit dem sich Palästinenser in Hebron vor den Abfällen der Israelis schützen, die diese dort auf sie herunterwerfen.

 

Attia realisiere in seinen Arbeiten sein Konzept von der Rolle des Künstlers als Künstler-Anthropologe und Historiker in der Praxis, schrieb der französische Kunsthistoriker Philippe Dagen im Katalog zur MMK-Schau. Dieses Konzept sei neu und eine Antwort auf unsere Gegenwart – im Gegensatz zum L’art pour l’art der Sechziger bis Achtzigerjahre. Tatsächlich geht Attias Engagement inzwischen über die reine Kunstproduktion hinaus. Im vergangenen Herbst hat er in einem der migrantisch geprägten Stadtteile von Paris den Kunstraum La Colonie gegründet, in dem Ausstellungen, Diskussionen, Konzerte, Partys und Lesungen stattfinden. Auf seinem iPad zeigt Attia das Video einer Veranstaltung in La Colonie, die Aufzeichnung einer Web-TV-Sendung von Paroles d’honneur, einer Initiative, die den Menschen aus den bevölkerungsreichen postkolonial-migrantisch geprägten Vierteln eine Stimme geben will. In dem Ausschnitt geht es um die Geschichte Théos, eines von Polizisten in der Pariser Vorstadt Aulnay-sous-Bois misshandelten jungen Schwarzen.

 

Die Frage, ob Kunst zu aktuellen politischen Diskursen etwas beitragen kann, wird durch Attias Arbeiten nicht einfach neu gestellt, sondern transzendiert. Die heutige postkoloniale Welt brauche keine Kunstwerke, die nur Kunst reproduzieren, sagt Attia, sie brauche Aktionen. Aktionen und Gespräche, denn: „Das eigentliche Ziel der Kunst ist die politische Aussage oder zumindest, das Gespräch zwischen Opfern, Tätern und deren Nachkommen zu eröffnen. Wir müssen reden. Es gibt so viele Geschichten, die noch nicht erzählt wurden.“

 

Beate SchederSpex, Kunst